Zeit zum Lernen

An vielen Schulen wird heute zum Beispiel ein Gegenstand wie die Problemerörterung einmal theoretisch besprochen, dann geschrieben und sogleich benotet. Die Freie Interkulturelle Waldorfschule kann keinen Sinn darin erkennen, den Unterrichtsstoff für Vergleiche eines vermeintlich angeborenen Intellekts zu testen, bevor der Stoff gründlich erlernt wurde. Jedes Kind soll hier gerade über seine natürliche Begabung hinauswachsen, indem es übend lernt. Dieses Prinzip ist um so mehr zu beachten, da hier Menschen über die ihnen von den Eltern mitgegebene Weltsicht hinausschauen und sich in zunächst ganz fremd erscheinende Perspektiven einleben sollen.

 

Zu einem solchen Einleben in die Gewohnheiten eines fremden Kulturzusammenhangs gehört nach Meinung der hier tätigen Pädagogen wesentlich mehr als das Lernen und Wiedergeben bloß begriffsmäßiger Zusammenhänge. Vielmehr muss z.B. das seelische Ringen eines Volkes um eine bestimmte Menschheitsfrage zu einem inneren, persönlichen Erleben des Schülers werden dürfen. Es braucht deshalb vor allem Zeit und Raum für eine wirkliches Sich-Befreunden mit dem jeweiligen Kulturerzeugnis. An die Stelle der Hast von einer oberflächlichen Datenabfrage zur nächsten soll die ruhige Vertiefung in ein einzelnes Stoffgebiet treten.

 

Eine solche Vertiefung des Stoffes bedarf wiederum notwendig des inneren Zusammenhangs seiner Teile. Einzelne Fakten, die das Kind bloß lernen soll, ohne sie denkend an seine übrige Wahrnehmungswelt angliedern zu können, erzeugen eine permanente Enttäuschung über die entgangene Befriedigung durch ein wirkliches Erkenntniserlebnis und fördern somit das Desinteresse an den Erscheinungen der Welt. Darf das Kind dagegen ein einzelnes Gebiet soweit durchschauen, dass es sich darin sicher fühlt, wird es sich ein anderes Gebiet mit Selbstvertrauen erobern können.

 

Dieser Grundsatz ist insbesondere für die Integration in eine Gemeinschaft von zentraler Bedeutung. Die heute gängige Zerstückelung und Verteilung des Unterrichtsstoffes über die ganze Schulzeit entspringt nicht einem pädagogischen Interesse, sondern ist das Ergebnis einer Einflussnahme gewisser Verbände auf das Bildungswesen, die für ihre Interessen eine Selektion an Stelle der individuellen Förderung brauchen. Diese Zerstückelung erzeugt eine permanente innere Unsicherheit, weil sie den Zusammenhang, der dem einzelnen Faktum erst eine Bedeutung gibt, dem Blick des Kindes entzieht.

 

Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin bemüht sich, dem Kind mit jedem Faktum stets auch den Zusammenhang mitzugeben, der diesem Faktum seinen Sinn verleiht. Es soll den Schülern von Anfang an zugetraut werden, ein Stoffgebiet als Ganzes kennen zu lernen, wenn auch die Form dem jeweiligen Alter entsprechen muss. Die Schule strebt deshalb auch an, nach Möglichkeit einzelne Fachstunden zu zusammenhängenden Projekteinheiten zu verbinden, damit die jeweiligen Stoffgebiete gründlich und vertieft erarbeitet werden können.

 

Das Kind darf und soll hier das Bewusstsein haben, dass es sich an der ganzen Welt zu messen hat, und nicht etwa Interessengruppen gefallen muss. Selbstverständlich wird dann allerdings auch jedes Kind Fehler machen müssen. Genau dazu soll es aber eingeladen werden: Die Bewertungen der Leistungen dienen in der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin nicht der Selektion der natürlich Begabten, sondern der Findung und Unterstützung individueller Entwicklungsziele. Für die Entwicklung eines individuellen Masstabs, an dem sich das Kind orientieren kann, ist aber die wichtigste Voraussetzung, dass angstfrei Fehler gemacht und sichtbar werden dürfen.