Die republikanische Verfassung
Laut Rudolf Steiner bedeutet der Zusatz „frei“ im Ausdruck „freie Waldorfschule“, dass der demokratische Staat daran gehindert werden soll, einen Einfluss auf Inhalt und Methode des Unterrichts zu nehmen, sofern es keine rechtlichen Fragen betrifft: Die Schüler sollen das hervorbringen können, was in ihnen selbst an Fähigkeiten liegt, aber nicht nach politischen oder wirtschaftlichen Interessen geformt werden. Häufig übersehen wird allerdings, dass diese Idee sich nicht bloß gegen den äußeren Staat, sondern gegen den demokratischen Prozess als solchen richtet. Denn, so Rudolf Steiner, ein demokratisches Urteil könne immer nur zu einem Durchschnitt der Meinungen führen, niemals aber zur Erkenntnis dessen, was für ein konkretes Kind in seiner konkreten Lebenssituation das Richtige sei. Das Ziel der pädagogischen Arbeit sei jedoch immer die Entwicklung eines einzelnen, wirklichen Kindes. Zu einem Urteil über dasjenige, was der Entwicklung dieses Kindes förderlich sei, könne daher auch nur derjenige kommen, der wahrnehmend mit dem jeweiligen Kind verbunden sei – der Pädagoge vor Ort. Deshalb definiert Rudolf Steiner eine „freie Schule“ wie folgt:
„Eine freie Schule ist diejenige, welche den Lehrenden und Erziehenden alles dasjenige ermöglicht, was sie aus ihrer Menschenerkenntnis heraus, aus ihrer Welterkenntnis heraus, aus ihrer Kinderliebe heraus unmittelbar für das Wesentliche halten, was hineingetragen werden soll ins Erziehungswesen. Eine unfreie Schule ist diejenige, wo der Lehrer fragen muß: Was ist vorgeschrieben für die erste Klasse, was ist vorgeschrieben für die zweite Klasse, wie muß die Stunde eingeordnet werden nach dem Gesetz?“
Auch von einem Nachbau des demokratischen Staates in der eigenen Struktur sollte abgesehen werden. Ausdrücklich sollen die Lehrer nicht darüber abstimmen, welche Gesetze sie sich zum Ersatz für die staatlichen nun selbst geben wollen. Vielmehr soll das „Gesetz“ durch „die freien menschlichen Verhältnisse, die ja individuell sind und sich immer von Woche zu Woche ändern können“ ersetzt werden, so Steiner. Zusammen mit den Lehrern der ersten Waldorfschule entwickelte er deshalb eine vollkommen neue Art der Verfassung, die er als „republikanische Verfassung“ bezeichnete.
Real tätig werden kann immer nur der jeweils einzelne Mensch. Für die unmittelbare Tätigkeit kommt deshalb auch all das in Betracht, was der Einzelne nicht mit der Gemeinschaft teilt, sondern was ihn gerade zu einem Individuum macht. Es ist sogar davon auszugehen, dass es in einer Gruppe von Menschen stets genau einen gibt, der für eine bestimmte Aufgabe am besten geeignet ist. Daraus ergibt sich, dass der Gemeinschaft die besten Kräfte nur dann zugeführt werden können, wenn nicht die demokratische Mehrheit, sondern das entsprechend befähigte Individuum allein darüber entscheidet, was auf dem ihm anvertrauten Gebiet zu geschehen hat.
Andererseits sollen die Lehrer nicht nebeneinander her, sondern zusammenarbeiten. Und die Zusammenarbeit setzt voraus, dass jeder die Gewissheit haben kann, dass der andere in seinem Klassenzimmer dasjenige tut, was im Hinblick auf das gemeinsame Ziel das Richtige ist. Dieser gemeinsame Geist hat allerdings einen solchen Charakter, dass er nicht durch einen demokratischen Beschluss festgesetzt werden könnte. Alle Auseinandersetzungen eines Lehrerkollegiums führen nämlich letztendlich zu Entscheidungen, die ein wirkliches Kind betreffen. Solche Entscheidungen dürfen niemals auf zufälligen Meinungen, sondern nur auf Einsicht in den objektiven Sachverhalt beruhen. Deshalb soll zwar einerseits das Urteil des jeweiligen Fachmannes maßgebend sein dürfen, andererseits aber auf Grundlage der tatsächlichen Anerkennung seiner entsprechenden Befähigung durch die Kollegen. Einen Raum zu schaffen, innerhalb dessen der eine den anderen, mit dem er zusammenarbeitet, auch wirklich erkennen und im Hinblick auf das gemeinsame Ziel beurteilen kann, ist deshalb Mittel und Herausforderung einer freien Selbstverwaltung.
In der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin gibt es keine demokratischen Abstimmungsverfahren. Der Englischlehrer entscheidet, was im Englischunterricht, der Öffentlichkeitskreis, was inder Öffentlichkeitsarbeit, und der Geschäftsführer, was in der Geschäftsführung zu geschehen hat. Andererseits wird durch Berichterstattung und gegenseitige Hospitation für die Gemeinschaft transparent gemacht, was in den jeweiligen Fachbereichen geschieht. Mindestens einmal wöchentlich wird das Unterrichtsgeschehen in der Gesamtkonferenz reflektiert und die pädagogische Grundlage bewegt. Lehrer und Erzieher legen dem Kollegium offen, was im eigenen Verantwortungsbereich geschieht, und beteiligen sich an einem kontinuierlichen Gespräch über Pädagogik und Menschenbild. So kann die Übertragung der jeweiligen Verantwortung auf den entsprechenden Fachmann einmütig geschehen.
Die Gesamtkonferenz trifft auch alle Personalentscheidungen. Die Gemeinschaft hebt also das Individuum auf seinen Posten, solange dies durch seine Fähigkeiten gerechtfertigt erscheint, und entbindet es wieder von seinen Aufgaben, sobald das nicht mehr der Fall ist. Entsteht eine Situation, in der die Arbeit eines Lehrers trotz der Transparenz des Geschehens und trotz des permanenten Gesprächs über das zu Grunde liegende Menschenbild für die Kollegen nicht tragbar ist, so können die Kollegen selbst das Arbeitsverhältnis beenden. Niemals soll jedoch eine Situation entstehen, in welcher der Lehrer deshalb bleiben kann, weil er von Kollegen beschlossene Inhalte „umsetzt“. Ein solches nicht auf eigener Überzeugung, sondern Angst oder Gehorsamkeit beruhendes Tun bleibt in der Klasse nämlich pädagogisch wirkungslos, erst recht auf jenem schwierigen pädagogischen Feld, auf dem die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin tätig wird.
Die Frage der Einheit der Schulgemeinschaft wird somit von der theoretischen Inhaltsebene auf die reale Begegnungsebene gehoben. Dadurch können beide Erfordernisse, die Freiheit des Einzelnen und das Handeln im gemeinsamen Interesse, nicht nur verbunden, sondern jeweils überhaupt ersterfüllt werden. Solange zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit besteht, durch eine Überstimmung des Anderen eine scheinbare Einigkeit zu erzeugen, solange muss jeder seine Beziehung zum anderen auch an dem Verhältnis orientieren, das beide zur Wahrheit einnehmen. Die Gemeinsamkeit existiert hier, wenn sie existiert, nicht als formales Bekenntnis, sondern nur als real verbindender, lebendiger Geist, der sich in der individuellen Anstrengung um Objektivität verwirklicht.
Das stellt die freie Schulgemeinschaft vor eine Schwierigkeit, die demokratische Gemeinschaften nicht kennen.
Diese Schwierigkeit ist beabsichtigt. Der Zweck des Ausschlusses demokratischer Verfahren ist gerade die Erzeugung einer Hürde, damit Ideologiebildung verhindert, und nur ein lebenswirklicher Geist durchdringen kann. Es soll sichergestellt werden, dass eine Einigung nur real möglich ist, dass heisst nur durch individuelle Einsicht in den objektiven, die subjektiven Meinungen überwindenden Sachverhalt. Es wird somit die Verantwortlichkeit gegenüber dem fachlichen Denken zur notwendigen Voraussetzung für das Funktionieren des Systems gemacht. Jeder Lehrer soll durch die Form der Verwaltung gerade gezwungen sein, permanent um Objektivität zu ringen, und seinen Standpunkt persönlich zu verantworten.
Da die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin den Geist ihrer Gemeinschaft in dem suchen muss, was ein multinationales und multireligiöses Kollegium wirklich verbindet, findet die republikanische Verfassung hier eine besondere Berücksichtigung. Denn selbstverständlich kann das Völker-Verbindende nicht dadurch gefunden werden, dass etwa der muslimische Lehrer in seinem Unterricht christliche Motive einfließen lassen muss, weil eine Mehrheit der Kollegen so abgestimmt hat.