Warum Waldorfpädagogik?

Die Waldorfpädagogik stellt nicht das Ideal eines einzelnen Volkes, oder gar politische und wirtschaftliche Interessen, sondern den jeweiligen individuellen Menschen selbst in den Mittelpunkt. Methodisch lenkt sie die Aufmerksamkeit des Unterrichtenden weniger auf den vom Schüler zu erinnernden Inhalt, sondern stärker noch auf die Anregung derjenigen Empfindungen und Gefühle im Schüler, durch die jener den Stoff auch gerne beherrschen will. Wahrheitsstreben, Liebe zur Arbeit und Ehrfurcht vor der Leistung anderer sollen im Schüler geweckt werden.
 

Was den freien Willen des Kindes zur geistigen Durchdringung der Welt und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hervorlocken kann, beschäftigt den Lehrer deshalb jeden Tag aufs neue. Erfahrungsgemäß wird dieses auf jeder Stufe der kindlichen Entwicklung anderer Natur sein: während das Kind in den ersten Jahren noch gerne reizvollen Sinneseindrücken nachgeht und sich die Außenwelt über die Nachahmung einverleibt, so orientiert es sich bald mehr an dem Eindruck, den die besonderen Fähigkeiten einzelner Erwachsener auf es machen. Während der Pädagoge also zuerst innerhalb der Wahrnehmungswelt dasjenige finden muss, was die Kräfte des Kindes wachruft, so wird er bald mehr darauf achten müssen, wie er sich so verhält, dass das Kind können will, was der Erwachsene kann, wie er also die natürliche Autorität für das Kind wird. In dieser Zeit wird der Lehrer auch viel dadurch bewirken können, dass er dem Kind Begegnungen mit verschiedenen Persönlichkeiten ermöglicht, die in ihren Berufszweigen verständig drinnen stehen. Erlangt der Heranwachsende dann aber die Geschlechtsreife, ist wiederum die Autorität fehl am Platz. Nun will und soll der junge Mensch den Lehrer hinterfragen und an der übrigen Menschenwelt messen. Deshalb hilft der Lehrer dem Schüler jetzt, diejenigen hervorragenden Geister der Menschheitsgeschichte zu entdecken, deren individuelles Ringen dem Schüler beispielhaft erscheinen kann für das spezifisch Menschliche. Indem der Schüler an solchen selbst gewählten Beispielen Liebe zur menschlichen Individualität entwickeln darf, findet er das innere Gleichgewicht zu der nun von ihm geforderten freien Urteilskraft.
 

Die Freie Interkulturelle Waldorfschule wendet diese Methode bewusst auch auf die Begegnung der Kulturen an: In den unteren Klassen konzentriert sich der Lehrer darauf, wie die Sprache so an das Kind herangebracht werden kann, dass es diese aus Freude an Klang und Rhythmus gerne nachahmen will. Je mehr das Kind dann aber die erwachsene Autorität sucht, desto mehr wird es auch in einer dafür geeigneten Lehrerpersönlichkeit das Motiv finden können, dieser nachzustreben. Jetzt macht vor allem die Haltung des Erwachsenen zur Welt einen tiefen Eindruck auf das Kind – durch das Vorbild eines erwachsenen „Grenzgängers“ kann hier z.B. viel erreicht werden. Erlangt das Kind dann die Geschlechtsreife, soll ihm genügend Zeit und Raum gewährt werden, damit es sich ganz in die Taten und Leiden derjenigen Persönlichkeiten einleben kann, die es zu beeindrucken vermögen. Der vertiefte Blick in die Biographie eines Menschen etwa, der zwischen den Kulturen um seine Identität ringt, vermag die Liebe zur menschlichen Individualität zu wecken.
 

Indem sie somit niemals etwas anderes voraussetzt auf Seiten des Schülers als Nachahmung, Nachstreben und Liebe, wird auch die Ausbildung der deutschen Kultur durch den eigenen Willen des Schülers vollzogen. Sie ist dann nicht als ein durch Tests erzwungener Phrasenkatalog im Gedächtnis des Schülers vorhanden, sondern ein wirklicher Bestandteil seines Seelenlebens geworden. Allerdings ein solcher, zu dem der Schüler sich in ein freies Verhältnis gesetzt weiß. Dieses Prinzip verfolgt die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin für alle in der Schule vertretenen Sprachen und Kulturen.
 

Dadurch wird aber gerade der Erwerb der Sprachkompetenz auch zum Mittel für den Erwerb einer ganz anderen Kompetenz: Indem das Kind sich in der bewussten Durchdringung der Kulturerzeugnisse selbst als ein freies Wesen kennen lernen darf, wird es in demjenigen Teil seines Wesens angesprochen und wertgeschätzt, auf dem alle Völkerverständigung beruht - der einmaligen, geistigen Individualität jedes Menschen. Am Ende der Schulzeit soll der junge Erwachsene in der Lage sein, seine eigenen geistigen Kräfte frei zu betätigen und entsprechend der vielfältigen Anforderungen der konkreten Lebenssituationen selbstverantwortlich weiterzuentwickeln.