Verständigung in Freiheit

Jede Verständigung beruht zuerst auf einer individuellen Anstrengung. Sie fordert den Willen des Individuums heraus, die Grenzen national geprägter Denkmuster zu überschreiten und sich auf das Neue einzulassen, das in der Begegnung zwischen den Angehörigen verschiedener Volksgruppen entstehen kann. Das friedliche Zusammenleben der Völker ist also zunächst eine rein geistige Frage, dann erst eine Frage des Geldes oder der Politik. Es bedarf zuallererst der Möglichkeit, das eigene Denken in der Begegnung frei betätigen und produktiv um das jeweils konkret Verbindende ringen zu können.
 
In dem Maß, indem die Menschheit ökonomisch und politisch zusammenwächst, muss das Erziehungssystem den individuellen Menschen als solchen an die Stelle tradierter nationaler Wertvorstellungen rücken. Denn allein die freie menschliche Individualität kann das Bindeglied zwischen den Kulturen sein, indem sie sich selbst über das hinausentwickelt, was sie bloß aufgrund nationaler Prägung oder ihrer ökonomischer Lebenssituation ist. Das praktische Leben der Gegenwart fordert heute eine Erziehung in und zur Freiheit.
 
Zwang dagegen verhindert gerade diejenige tiefere Verbindung mit Kultur und Sprache, die für ein friedliches Zusammenleben von jedem Einzelnen immer mehr gefordert ist. Nicht Opferung der besonderen Kultur des Einzelnen zu Gunsten einer theoretischen Gemeinschaft der Werte, sondern das wirkliche Ausleben dieser Werte durch die freie Anerkennung des Anderen führt Menschen zusammen. Was dann „zwischen“ den verschiedenen Kulturen liegt, diese „übergreift“ oder „verbindet“, muss in der Begegnung der Kulturen täglich neu gesucht und gegriffen werden.
 
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin will ihre Gemeinschaft deshalb weniger auf ein Bekenntnis zur Freiheit als auf das wirkliche Praktizieren der Freiheit gründen, das heisst: auf die gelebte Anerkennung und Förderung aller in ihr vertretenen Kulturen. Ihren Erfolg misst sie daran, wieweit es ihr gelingt, nicht nur formelle Bekenntnisse zu einheitlichen Normen abzufragen, sondern den Willen jedes einzelnen Schülers zu einer wirklichen Mitarbeit an einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft zu gewinnen. Sie ist also per Definition eine freie Schule: Was den Schüler dazu bewegt, ein Kulturgut mit Begeisterung und aus eigenem Antrieb wirklich besitzen zu wollen, bestimmt ihren Lehrplan.
 
Lehrer und Erzieher werden hier als Künstler verstanden - müssen sie doch für jedes Individuum dasjenige Mittel finden, was dessen Wille zur Mitarbeit hervorlocken kann. Der Pädagoge wird hier nicht als „Lehrkraft“ gesehen, dessen Aufgabe darin besteht, einen bestehenden Werte-Kanon zu vermitteln. Vielmehr soll er aktiv in den Entwicklungsprozess eines zeitgemäßen menschlichen Selbstverständnisses einbezogen bleiben, und in der konkreten Begegnung um eine situationsbezogene Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Interkulturellen ringen dürfen.