Keime für die Zukunft

Der ganze Mensch soll all seine Kräfte in alle Richtungen hin entfalten dürfen, damit er sein Leben später in Freiheit selbst bestimmen kann. Dieses Bildungsideal der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin bezeichnet man häufig mit dem treffenden Ausdruck „ganzheitliche Erziehung“. Zur Ganzheit gehört allerdings noch mehr als der oben skizzierte Aspekt der Allseitigkeit. Es soll ja nicht das Stoffgebiet wahllos erweitert werden. Vielmehr muss es allein schon aus Zeitgründen eine Auswahl, und damit ein Auswahlkriterium geben. Und hier liegt eine weitere Besonderheit der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin: Das Auswahlkriterium für Anzahl und Umfang der Fächer ist nicht die vermeintliche „Wichtigkeit“ eines zu erinnernden Inhalts. Die Lehrer rechnen sogar damit, dass die Schüler selbstverständlich viele Inhalte später wieder vergessen werden. Und sie hoffen andererseits, dass ihre Schüler einmal mehr wissen als sie selbst. Deshalb konzentrieren sich die Lehrer der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin nicht allein auf den zu erinnernden Inhalt, sondern stärker auf die Fähigkeiten, die sich an dem jeweiligen Inhalt entwickeln und später wieder geweckt und weitergebildet werden können.


Die Lehrer dieser Schule wissen, welche Übung den Boden für welche spätere Fähigkeit gibt, und lernen die Zusammenhänge der menschlichen Natur tiefer durchschauen, als es für andere Lebensgebiete vielleicht nötig ist. Die pädagogische Erfahrung zeigt zum Beispiel, dass ein innerer Zusammenhang zwischen einem bildhaften Denken und dem Verständnis wirtschaftlicher Prozesse besteht. So kann sich etwa der Fall ergeben, dass ein Schüler ausgerechnet deswegen leicht in der Wirtschaftskunde mitkommt, weil er zuvor anhand von Goethes Naturwissenschaft ein bildhaftes Denken geübt hat. Es kann aber auch umgekehrt vorkommen, dass man als Erwachsener eine Fähigkeit direkt ansprechen will und übersieht, wie in der Form dieser Ansprache für das Kind eine Übung liegt, die der Entwicklung der gemeinten Fähigkeit gerade entgegen steht. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man einem Kind die Demokratie intellektuell nahebringen will. Demokratie setzt den Begriff „Mensch“ voraus. Dieser Begriff bleibt aber unbestimmt und leer ohne die vielfältigsten Erfahrungen in der Begegnung mit Menschen. Intellektuell vermittelt, schneidet der Begriff das Kind gerade von seiner Erfahrungswelt ab. Wenn es dagegen in den spannenden Sagen der Völker leben, mit einem Bauern das Feld pflügen, oder in einer sozialen Einrichtung kranken Menschen helfen darf, gewinnt das Wort „Mensch“ allmählich eine Bedeutung für das Kind. Zu seiner Zeit kann der Begriff „Demokratie“ dann auf einen fruchtbaren Boden fallen, und ein echtes Herzensan-liegen des jungen Erwachsenen werden.